In der jugendbewaehrungshilfe.ch engagiere ich mich im Bereich der Familienbegleitung. Ich unterstütze sowohl Jugendliche als auch Eltern bei Fragen des familiären Zusammenlebens und des alltäglichen Lebens. So sollen die vorhandenen Kompetenzen in der jeweiligen Lebenssituation gefördert und möglichst gewinnbringend genutzt werden.
Carmela Tonto ist Mutter von zwei jungen Erwachsenen; ausgebildete Arztgehilfin; hauptberuflich in der Zuger Opiat-Abgabe (ZOPA) tätig. Diverse Weiterbildungen unter anderem im Bereich Krisenintervention und in der gewaltfreien Kommunikation.
Wenn Jugendliche an der Oberstufe massiven Widerstand leisten, gar die Schule schwänzen, ist zugleich oft auch die Beziehung zu den Eltern belastet. Carmela Tonto (56) aus Baar, Mutter von zwei erwachsenen Kindern, unterstützt Familien in Krisensituationen und weiss aus eigener Erfahrung: „Es braucht Vertrauen, aber auch das massvolle Durchsetzen von Abmachungen.“
In Ihrem Hauptberuf sind Sie Mitarbeiterin der Drogenabgabestelle des Kantons Zug und werden Tag für Tag mit Menschen konfrontiert, die von der Bahn abgekommen sind und einen von der Sucht dominierten Alltag haben. Welches sind die Hauptprobleme, die Sie in Ihrer zweiten Tätigkeit, als Familienbegleiterin der Jugendbewaehrungshilfe, erleben?
Carmela Tonto: Drogen spielen in der Regel zum Glück noch keine Rolle. Häufig zeigt sich aber bei den Jugendlichen, die der vernetzten Jugend- und Elternbildungsarbeit der Jugendbewaehrungshilfe und je nach Bedarf auch mir zugewiesen werden, ein ähnliches Bild: Sie haben schlechte Noten; machen im Unterricht nicht mehr mit, sind unpünktlich und unzuverlässig. Gegenüber von Erwachsenen verhalten sie sich nicht nur aufmüpfig, sondern verweigern sich völlig. Und so erstaunt es nicht, dass solche Jugendliche auch nicht in der Lage sind, auf ein Ziel hinzuarbeiten, sich selber zu motivieren und Schritt für Schritt ihre Situation zu verbessern, geschweige denn eine Lehrstelle zu finden.
Sie selber haben einen erwachsenen Sohn und eine erwachsene Tochter, die Sie grösstenteils als alleinerziehende Mutter aufgezogen haben. Ist es nicht ein Stück weit völlig normal, dass es zu Reibereien und Schwierigkeiten kommt? Dass ein Jugendlicher den Schulverleider hat?
Natürlich, Auseinandersetzungen und ein gewisses Mass an Schulmüdigkeit gehören zum Alltag. Die Erziehung von Kindern ist immer eine Herausforderung. Es kann ganz schön streng sein, auch ich bin oft an meine Grenzen gekommen. Vor allem in jener Zeit, als meine Kinder in der Pubertät waren, musste ich aufpassen, dass der Faden nicht riss. Es geht darum, die Spannung nicht einseitig aufzulösen.
Wie meinen Sie das?
Es geht um Anpassung und Widerstand. Manchmal muss ich mich dem Jugendlichen anpassen, ihn einfach machen lassen, zum Beispiel damit leben können, dass er sein Zimmer nicht sofort oder nach meinen Vorstellungen aufräumt. Manchmal aber braucht es meinen Widerstand, meine Fragen, ein klärendes Gespräch. Es braucht beides. Wenn ich einem Jugendlichen ständig Geld gebe, ihn alles kaufen und machen lasse, was er gerade will, er rund um die Uhr am Handy hängen darf und es mir egal ist, wenn er seine Hausaufgaben nicht macht, dann ist das genauso einseitig, wie wenn ich ihm jeden Wunsch verweigere, ihn ständig kontrolliere und ihm keine Möglichkeit gebe, seinen eigenen Weg zu finden, Fehler zu machen.
In welchen Fällen kommen Sie als Familienbegleiterin ins Spiel?
Meine Beratung ist ein zusätzliches Angebot, das sich in erster Linie an die Eltern richtet und auf Freiwilligkeit basiert. Der erste Kontakt läuft immer über Philipp Suter von der Jugendbewaehrungshilfe. Er ist es, der gemeinsam mit dem Jugendlichen, mit den Lehrpersonen und den Eltern nach Lösungen sucht. Mich beeindruckt, wie er vertrauensvoll und wohlwollend, aber auch beharrlich und fordernd dranbleibt und die Wünsche der Jugendlichen ernst nimmt. Philipp Suter macht es beispielsweise möglich, dass ein Schüler, bei dem es um die Berufswahl geht, an zwei Tagen pro Woche in einem Tierheim oder in einer Küche mitarbeiten darf und die restlichen Tage wieder verbindlich die Schule besucht.
Welche Rolle spielen Mütter und Väter bei solchen Übereinkünften? Und welchen Beitrag können, aufgrund Ihrer eigenen Erfahrung, Eltern leisten, damit der Übergang ins Berufsleben klappt?
Komme ich bei meiner Arbeit mit Eltern ins Gespräch, meistens sind es Mütter, versuche ich ihnen den Ernst der Lage aufzuzeigen. Das ist wirklich ein ganz wesentlicher Punkt: Die Lage ist sehr ernst! Gewisse Eltern schauen nicht so genau hin, überlassen das Kind sich selbst und denken, es komme dann irgendwann schon wieder gut – wie von selbst. Aber so ist es eben nicht. In der Oberstufe werden die Weichen für die Zukunft gestellt. Wer ständig unpünktlich ist, die Schule schwänzt, sich an keine Abmachungen hält, sich verweigert, der wird auch keine Lehrstelle finden und früher oder später fremdplatziert werden oder in der Sozialhilfe landen.
Leider nehmen gewisse Eltern ihre Kinder auf eine falsche Art und Weise in Schutz, behandeln sie wie kleine Könige und suchen die Ursache für das Problem irgendwo ausserhalb. Die Kinder übernehmen diese Haltung, fordern alles Mögliche von andern, aber nur nichts von sich selbst.
Steckt dahinter nicht der Wunschtraum, es müsste doch ein Leben ohne Schwierigkeiten geben, ein Leben, bei dem man ohne Anstrengung ans Ziel kommt? Ein Fussballprofi à la Ronaldo werden, viel Geld verdienen – aber alles ohne zu trainieren, ohne Schmerzen, ohne Pflichten?
Ja, so ist es. Und genau hier knüpfe ich als Familienbegleiterin an. Ich versuche im Gespräch mit den Eltern darauf hinzuweisen, dass es ohne das Setzen von Grenzen, das Einhalten von gewissen Forderungen nicht geht, und dass Reibung nichts Schlechtes ist. Mit der Zeit stelle ich häufig fest: Eltern möchten eigentlich streng sein, wünschen sich für ihr Kind eine gute Lehrstelle, aber sie haben weder die Kraft noch die Geduld ein paar wenige Grundsätze durchzusetzen. Flippt ihre Tochter oder ihr Sohn aus, was in diesem Alter ja nichts Aussergewöhnliches ist, krebsen sie sofort zurück. Sie geben es fortan auf, auch nur schon das Grundlegendste wie Anstand, Pünktlichkeit, Ordentlichkeit, Zuverlässigkeit einzufordern. Zugleich verwöhnen sie ihre Kinder und erfüllen ihnen, zumindest was das Materielle anbelangt, alles Erdenkliche.
Was gefällt Ihnen an Ihrer Arbeit als Familienbegleiterin?
Es ist spannend, die unterschiedlichsten Familienverhältnisse kennenzulernen und nach und nach die Situation etwas klarer zu sehen. Ich komme ja nicht als Besserwisserin, sondern als Helferin. Oft handelt es sich um Familien mit einem Migrationshintergrund. Ich selber bin ja auch multikulti: Ich stamme aus Italien, der Vater meiner Kinder ist ein Mazedonier aus dem Kosovo. Es freut mich, wenn ich einer Mutter oder einem Vater Mut machen kann, dem eigenen Kind zu vertrauen und die schwierige Situation als Chance zu sehen: Denn die Reibung kann es ermöglichen, einander in der Familie wieder näherzukommen und dank dieser Nähe ein paar wenige Verbindlichkeiten vom eigenen Kind einzufordern, die dann zu Fortschritten im Schul- bzw. Berufsalltag des Kindes führen werden.
Interview: Christoph Schwyzer